Analyse der aktuellen Lage in 10 Punkten
Im Folgenden möchte ich Ihnen in zehn Punkten meine Analyse der aktuellen Lage darlegen.
1. In den zurückliegenden dreißig Jahren kam es zu einem starken Anstieg der Verschuldung in den Industrieländern.
Diese Erhöhung erklärt sich durch den Rückgang der Zinssätze als Konsequenz der erfolgreichen Inflationsbekämpfung durch die Zentralbanken. Der Anstieg der Verschuldung erfolgte in zwei Wellen: An eine erste Phase steigender Schulden in den 1980er-Jahren schloss sich in den 1990er-Jahren eine Konsolidierung an, auf die seit 2000 wieder eine Verschuldungswelle folgte. Vor allem diese zweite Welle hat die Wirtschaft extrem krisenanfällig gemacht. Ausgangspunkt war die unverantwortliche Geldpolitik der Federal Reserve nach dem Platzen der Spekulationsblase im Technologiesektor. Die amerikanische Notenbank hielt ihre Leitzinsen auf einem künstlich niedrigen Niveau und ermunterte so zur weiteren Schuldenaufnahme (in den USA stieg das Volumen der Konsumkredite in jedem Monat zwischen Februar 1998 und Juli 2008). Als Folge bildete sich eine Immobilienblase, und überall schossen Aktivitäten ohne wirtschaftlichen Mehrwert aus dem Boden. Weitere Phänomene, beispielsweise die Deregulierung des Finanzsektors, verstärkten diese Tendenz. In den USA ist die Verschuldung, gemessen am Bruttosozialprodukt, heute höher als in den 1930er-Jahren.
2. Zwei zentrale Wirtschaftsakteure – die US-Haushalte und die Banken – haben mit einem Entschuldungsprozess begonnen.
Genau wie der Verschuldungsprozess dem Wachstum zugute kam (die Kreditaufnahme für die Anschaffung eines Neuwagens kurbelt den Konsum an), wird der Entschuldungsprozess das Wachstum belasten (Geld, das zur Kredittilgung verwendet wird, steht nicht für andere Ausgaben zur Verfügung). Das Wachstumsmodell der vergangenen dreißig Jahre – die globale Wirtschaft wurde von der amerikanischen Konjunktur getrieben, diese wiederum vom privaten Konsum, der seinerseits durch Kredite ermöglicht wurde – ist angesichts der Probleme, denen sich die US-Haushalte nun gegenübersehen, definitiv gescheitert. Da das Wachstumsmodell der Länder und Regionen außerhalb der USA häufig nicht auf der Binnennachfrage basiert, sondern in erster Linie exportgetrieben ist, kam dem US-Konsumenten eine noch zentralere Rolle zu. Während die Weltwirtschaft in den 1970er-Jahren unter einem im Vergleich zur Nachfrage unzureichenden Angebot litt, trifft heute genau das Gegenteil zu (was wiederum auch erklärt, warum das aktuelle Umfeld durch Deflationsdruck geprägt wird, wohingegen in den 1970er-Jahren Inflationsdruck herrschte). In gewisser Weise spielte der US-Verbraucher in diesem Szenario die Rolle des alleinigen Endkonsumenten. Zwischen Anfang 1992 und Ende 2007 kam es zu 64 aufeinanderfolgenden Quartalen steigender Konsumausgaben in den USA.
3. Der öffentliche Sektor verschuldet sich, um die Entschuldung des Privatsektors zu kompensieren.
In den beiden zurückliegenden Jahren wuchs der Schuldenberg der Staaten wie nie zuvor. Dahinter steckt die Entscheidung der Regierungen, die Banken zu retten und die lahmende Aktivität der Privatwirtschaft durch staatliche Konjunkturpakete auszugleichen. Da die demografischen Tendenzen in den nächsten Jahren in zahlreichen Ländern für steigenden Druck auf die öffentlichen Ausgaben sorgen werden, ist diese Entwicklung sehr beunruhigend. Dazu kommt, dass in vielen Ländern ein großer Teil der Staatsverschuldung in den nächsten 3 Jahren refinanziert werden muss.
4. Die sehr hohe Staatsverschuldung schwächt die Wirtschaft und birgt erhebliche neue Risiken.
Die beiden Volkswirte Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff schreiben in ihrem Buch „This time is different", dass die Geschichte gezeigt hat, dass das Wachstum bei einer Schuldenquote nahe 100% (Quotient aus Staatsschulden zu Bruttoinlandsprodukt) nachlässt und das Ausfallrisiko bzw. die Gefahr einer galoppierenden Inflation (sowie das systemische Risiko im Bankensektor) steigen. Weil das Modell des Wohlfahrtsstaates, in dem unhaltbare Wahlversprechen über Staatsverschuldung finanziert werden, vor diesem Hintergrund ausgedient hat, könnten möglicherweise auch soziale Unruhen auftreten.
5. Die hohe Verschuldung ist kein Problem der aufstrebenden Länder, sondern der Industrieländer.
Der Verschuldungsgrad auf Haushalts-, Unternehmens- und Staatsebene ist in den meisten Schwellenländern gering. Anders als in den Jahren zwischen 1980 und 2000 (Stichwort Lateinamerikakrise, Asienkrise) wird die nächste staatliche Schuldenkrise also nicht in diesen Ländern stattfinden
6. Die europäischen und US-amerikanischen Währungsbehörden werden ihre Leitzinsen sehr lange auf einem sehr niedrigen Niveau halten.
In einem von hoher Verschuldung, geringem Wachstum und einer restriktiven Fiskalpolitik geprägten Umfeld werden die Europäische Zentralbank und die Federal Reserve lange abwarten, bevor sie ihre Geldpolitik wieder straffen. Da ein direkter Zusammenhang zwischen der Verzinsung einer Anlage am Geldmarkt und den Leitzinsen der Zentralbanken besteht, wird die Rendite „risikoloser" Anlagen in den nächsten Jahren äußerst niedrig bleiben. Auch Nichtstun ist daher eine Entscheidung – welche angesichts der Kurzfristzinsen nahe Null mit hohen Opportunitätskosten einhergeht.
Längerfristig ist es eine große Herausforderung für die Währungsbehörden dies- und jenseits des Atlantiks, ihre sehr expansive Geldpolitik aufrechtzuerhalten, ohne an den Anleihemärkten den Eindruck zu erwecken, ihr Ziel im Bereich der Inflationskontrolle aufzugeben. Träfe dies zu, würden die mittel- und langfristigen Zinsen (welche die Währungsbehörden nicht kontrollieren) steigen – mit katastrophalen Folgen für die Haushalte zahlreicher Länder.
7. Der Mythos der „risikolosen" Staatsanleihe steht auf dem Prüfstand, und Anleger werden zunehmend zwischen den einzelnen Staaten differenzieren.
Vor einem Jahr lag der Zinssatz zehnjähriger Bundesanleihen bei 3,7%, derjenige griechischer bei 5,5%. Mittlerweile beträgt er 2,6% bzw. 8,1%. Mit den Zweifeln der Anleger an der Schuldendienstfähigkeit Griechenlands ist das Land in einen Teufelskreis geraten: Die steigenden Finanzierungskosten erhöhen die Schuldendienstkosten, womit wiederum die Gefahr eines Zahlungsausfalls zunimmt, was eine weitere Erhöhung der Finanzierungskosten rechtfertigt. Deutschland profitiert hingegen von der „Flucht in die Qualität" und bewegt sich in einem positiven Kreislauf. Die wachsende Schere zwischen den Finanzierungskosten beider Länder verstärkt die – durch die unterschiedliche Entwicklung der Lohnkosten bedingte – Wettbewerbskluft zwischen Deutschland und Griechenland. Verallgemeinernd könnte man sagen, dass Deutschland stellvertretend für Nordeuropa steht, während Griechenland Südeuropa repräsentiert. Der Wettbewerbsabstand zwischen beiden Regionen wird den Euro zunehmend unter Druck setzen. Wenn die Gemeinschaftswährung in ihrer aktuellen Form überleben soll, sind enorme Solidaritätsbemühungen unter den Europäern notwendig sowie – in einigen Ländern – eine Haushaltsdisziplin nie gekannten Ausmaßes (die restriktive Fiskalpolitik wird übrigens auf das Wachstum drücken, so dass diese Länder möglicherweise an Steuereinnahmen verlieren, was sie an Staatsausgaben einsparen) .
Die Staatsanleihen der Industrieländer sind derzeit mit wenigen Ausnahmen für Anleger eher unattraktiv, weil sie entweder nur eine sehr geringe Rendite abwerfen, oder ein mehr oder weniger großes Ausfallrisiko besteht (ohne das von einigen Akteuren beschworene Risiko erwähnen zu wollen, dass die hohe Staatsverschuldung durch die Ingangsetzung der Notenpresse eine hohe Inflation auslösen wird). Die Staatsanleihen aus den aufstrebenden Ländern punkten mit wesentlich günstigeren ökonomischen Rahmenbedingungen. Allerdings sind auch die Renditen dieser Papiere bereits stark gesunken, und es kommt auf den Einzelfall an. Gleiches gilt für Unternehmensanleihen (Corporate Bonds).
8. Im aktuellen Umfeld hat sich die traditionelle Einteilung in risikoreiche Aktiva (Aktien) und risikoarme Aktiva (Anleihen) mehr und mehr überholt.
Hintergrund dieser Unterscheidung ist die Tatsache, dass Anleger „Risiko" gewöhnlich mit „Volatilität" assoziieren. Natürlich kann der Kurs einer Aktie innerhalb kurzer Zeit durchaus 10% steigen oder fallen, während solche Schwankungen bei Staatsanleihen eher selten und bei Geldmarktanlagen quasi unmöglich sind (der Wert von Geldmarktanlagen kann prinzipiell nur steigen, außer die Kurzfristzinsen wären negativ). Im aktuellen Umfeld muss Risiko jedoch auch mit der Möglichkeit gleichgesetzt werden, dass Anleger keine Zinsen erhalten, nicht zu 100% bedient werden oder der Wert der Anlage inflationsbedingt drastisch sinkt. Dieses Risiko kann heute nicht mehr ausgeschlossen werden und betrifft in erster Linie festverzinsliche Anlagen.
Aktien bieten derzeit zwei wesentliche Vorteile im Vergleich zu Staatsanleihen: Zunächst erfreuen sich zahlreiche Unternehmen einer exzellenten Finanzsituation – im Gegensatz zu vielen Staaten. Zudem repräsentieren Aktien reale Aktiva und bieten deshalb – zumindest theoretisch – einen besseren Inflationsschutz.
Die Tatsache, dass sich die Geldmarktzinsen auf einem derart niedrigen Niveau bewegen, könnte den Börsen ebenfalls zugute kommen. Dass niedrige Zinsen kein ausreichendes Argument für Aktieninvestitionen sind (vor allem, wenn dieses niedrige Niveau – wie aktuell der Fall – die Folge einer extrem unsicheren Wirtschaftslage ist), habe ich bereits mehrfach dargelegt. Fakt ist jedoch, dass sich Anleger in einem Niedrigzinsumfeld wesentlich mehr für Aktien interessieren.
9. Die US-amerikanischen und europäischen Börsen verfügen auf Sicht von drei bis fünf Jahren nur über ein sehr begrenztes Aufwärtspotenzial.
Nach einem für die Börsen dieser Region sehr schwarzen Jahrzehnt – die meisten Indizes liegen aktuell etwa 25% unter ihrem Stand von Ende 1999 (ohne Dividenden) – mag diese Schlussfolgerung überraschen. In normalen Zeiten müssten die Aktien diesseits und jenseits des Atlantiks nach einer derart enttäuschenden Performance jetzt billig und „reif" für einen neuen strukturellen Haussezyklus sein (auf die schwache Entwicklung zwischen 1966 und 1982 folgte schließlich von 1982 bis 2000 auch ein großer Haussezyklus). Dies ist jedoch nicht der Fall. Das schwache Abschneiden der Märkte im zurückliegenden Jahrzehnt basierte auf der Tatsache, dass die Aktienbewertungen Anfang 2000 extrem hoch waren. Inzwischen bewegen sie sich zwar wieder in angemesseneren Sphären, allerdings immer noch deutlich über jenem Niveau, das in der Vergangenheit den Startpunkt für große Haussezyklen bildete. Hinzu kommt, dass der Zinsrückgang, welcher für den Anstieg der Bewertungen in den 1980er- und 1990er-Jahren maßgeblich war, weitgehend beendet ist.
Die Börsen der Industrieländer dürften entsprechend in einem volatilen Auf und Ab verharren, ähnlich der Entwicklung der vergangenen zehn Jahre, sie laufen jedoch Gefahr, auch in einigen Jahren kaum ein höheres Niveau zu verzeichnen als jetzt (bzw. vielleicht sogar ein deutlich niedrigeres). Eine passive „Buy-and-Hold"-Strategie kann in diesem Szenario nur enttäuschende Ergebnisse liefern, weshalb ein aktives Management im aktuellen Umfeld wesentlich geeigneter ist. Die Einzeltitelauswahl (Stockpicking) stellt eine Komponente einer solchen Strategie dar. Wir bevorzugen Qualitätsunternehmen (geringe Verschuldung, hohe Eigenkapitalrendite) mit starkem Engagement in Regionen mit hohem Wachstumspotenzial, die in der Lage sind, interessante Dividenden auszuschütten. Den vom Markt bei solchen Werten traditionell verlangten (gerechtfertigen) Aufschlag sucht man derzeit vergebens, da diese Unternehmen während der 2009er Erholung deutlich hinter dem Markt zurückgeblieben waren.
10. Die Börsen der aufstrebenden Länder befinden sich in einem strukturellen Haussezyklus.
Vereinfachend könnte man sagen, dass das 20. Jahrhundert die Ära der USA war, während das 21. Jahrhundert Asien gehören wird. Langsam erkennen dies auch die Börsen, und in den zurückliegenden Jahren registrierten die Märkte der aufstrebenden Länder eine wesentlich bessere Entwicklung als ihre Pendants in den Industriestaaten. Diese Tendenz dürfte sich angesichts der guten Fundamentaldaten der aufstrebenden Länder fortsetzen.
Anleger sollten dennoch berücksichtigen, dass die Märkte der Schwellenländer wie bereits in den vergangenen Jahren auch künftig sehr schwankungsanfällig bleiben werden. Diese Volatilität geht in erster Linie auf die Abhängigkeit der Region von Europa und den USA zurück – sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht, da sich die Binnennachfrage noch entwickeln muss, als auch in finanzieller Hinsicht, weil die Finanzmärkte dieser Länder stark von ausländischem Kapital beeinflusst werden.