Deflation, eine Serie (Teil 2)
Im ersten Blogbeitrag dieser Serie haben wir Deflation durch Effizienzgewinne und durch einen Angebots-Nachfrageschock kennengelernt. Und wir haben gesehen, dass durch verändertes Ausgabenverhalten der Konsumenten und durch die Geldmengenpolitik der Zentralbanken in der jüngeren Vergangenheit Deflationen in den westlichen Industrieländern nur selten auftraten.
Ein Gespenst geht um in der Welt, das Gespenst der Deflation
Das war nicht immer so. Vor 1914 waren Deflationen nicht ungewöhnlich. Das lag daran, dass
- der Goldstandard eine aktive Geldmengenpolitik praktisch unmöglich machte,
- es noch keine Zentralbanken im heutigen Sinne gab, die eine solche aktive Geldmengenpolitik hätten machen können,
- und es aufgrund der damaligen Entwicklungen in Industrie und Landwirtschaft sowie der rasanten Globalisierung z.B. durch Eisenbahn und Dampfschifffahrt zu außergewöhnlich hohen Effizienzsteigerungen gekommen war.
Diese damals neuen Technologien begeisterten die Menschen wie heutzutage die Informations-, Nano- oder Biotechnologie, was zu verschiedenen kreditfinanzierten Spekulationsblasen führte. Deren Platzen löste Vertrauenskrisen aus, die wiederum einen allgemeinen Nachfragerückgang zur Folge hatten. Dadurch fielen die Preise für Waren und Dienstleistungen, es kam also zu Deflationen.
Die wohl größte Deflation vor dem Ersten Weltkrieg war die "Gründerkrise", die übrigens in manchem an die Finanzkrise von 2008/09 erinnert: während der Boomjahre der Gründerzeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es in Deutschland und Österreich zu einer Blase an den Immobilien- und Aktienmärkten, die zu einer Überhitzung der Wirtschaft führte. Die Blase platzte 1873, was zunächst Auswirkungen auf alle anderen Börsenplätze weltweit hatte. In der Folge gingen allein in Deutschland und Österreich über 60 Banken bankrott. Aus der folgenden Vertrauenskrise wurde eine globale Wirtschaftskrise, die aufgrund des o.g. Nachfrageschocks in eine Deflation mündete.
Aus heutiger Sicht werden diese Deflationen und die mit ihnen einhergehenden Depressionen meistens als Ausgleich zu hoher Wachstumsraten in den Vorjahren gesehen und als Stagnationen bezeichnet. Ihre ökonomischen Folgen aus der historischen Gesamtsicht heraus werden tendenziell sogar als "gut" oder "sinnvoll" betrachtet.
Auf die letzte große weltweite Deflation - die große Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre - trifft diese Einschätzung jedoch nicht zu. Aufgrund ihrer Dauer und Schwere sowie der gesellschaftlichen/sozialen Auswirkungen hat sich die "Great Depression" ins kollektive Gedächtnis, besonders der Vereinigten Staaten, eingeprägt. Diese Krise wurde nicht nur von praktisch allen bedeutenden Ökonomen untersucht, sondern darüber hinaus auch von den großen amerikanischen Kulturschaffenden der Zeit auf verschiedenste Art und Weise verarbeitet.(1)
Auslöser war damals der starke Kursverfall an den amerikanischen Aktienbörsen ab September 1929. Vor allem der 29. Oktober 1929 ist als "Schwarzer Dienstag" in die Geschichtsbücher eingegangen. Von seinem Höchststand am 3. September 1929 bis zu seinem Tiefststand am 8. Juli 1932 fiel der Dow Jones Index um fast 90% auf den Wert seiner Erstnotierung vom 26. Mai 1896.
Der Börsenkrach war natürlich lediglich ein Symptom und nicht die Ursache der Depression. Je nach Überzeugung/Schule entwickelten sich dazu verschiedene Theorien. Die beiden gängigsten Erklärungen möchte ich kurz skizzieren, da sie
- die Basis der heutigen allgemeinen Interpretation der Entwicklung sind,
- aufzeigen, welcher Teufelskreis mit einer lang anhaltenden Deflation verbunden ist,
- und die heutigen Reaktionen von Regierungen und Zentralbanken verständlich machen.
Eine dritte Erklärung für die Große Depression, die sogenannte "Schuldendeflation", werde ich in meinem nächsten Blogbeitrag aufgreifen, da sie für unsere modernen schuldenbasierten Volkswirtschaften von besonderer Bedeutung ist.
Von John Maynard Keynes stammt die Theorie, dass der allgemeine - u. a. durch den Aktiencrash verursachte - Vertrauensverlust zu einer plötzlichen Erhöhung der Sparquote und damit einem Konsumrückgang führt. Dadurch falle der Umsatz der Unternehmen, die dann ihre Kapazitäten mittels reduzierter Investitionen, Entlassungen und Lohnkürzungen zurückfahren, was wiederum zu einer erhöhten Sparquote aufgrund von Zukunftsängsten führt.
Deflationsspirale
Wird diese Deflationsspirale nicht durchbrochen, so wächst darüber hinaus im Laufe der Zeit die allgemeine Erwartung, dass die Preise auch in Zukunft weiter fallen werden. Dann wiederum wird es profitabel, Geld zu horten statt es zu investieren oder auszugeben; in der Folge dreht sich die Abwärtsspirale immer schneller.
Keynes' Lösungsvorschlag, um die Spirale zu durchbrechen: Regierungen sollten in Abschwungphasen die private Sparquote mittels Schuldenaufnahme oder Steuersenkungen abschöpfen und so den Nachfragerückgang kompensieren. Dieser Empfehlung sind seitdem die meisten Regierungen gefolgt, zuletzt im großen Umfang nach der Finanzkrise 2008/09. So beschloss z. B. die US-Regierung ein Ausgabenprogramm, das das Haushaltsdefizit von 1,3 % des BSP (2007) auf über 10 % (2009) steigen ließ.(2)
Zeitgleich zu Keynes entwickelten Milton Friedman und Anna Schwartz die geldmengenorientierte Theorie des "Monetarismus": Für sie ist Inflation - und damit auch Deflation - immer ein monetäres Problem, folglich sehen sie die Hauptursache der Depression in der Bankenkrise. Es ist richtig, dass in den 1930er Jahren als Folge des Börsencrashs zahllose durch Aktienpakete besicherte Kredite platzten. Etwa ein Drittel aller amerikanischen Banken, darunter auch einige große Institute wie die New York Bank of the United States, waren gezwungen ihre Schalter zu schließen, und das Eigenkapital der Banken fiel deutlich. Die Geldmenge sank um 35 %, was dazu führte, dass viele Unternehmer keine Kredite bekamen und alte Kredite nicht refinanziert wurden. Dies wiederum ließ die Deflation auf 33 % steigen.
Friedman und Schwartz propagierten daher, dass die Zentralbank durch Zinssenkungen, Liquiditätsspritzen für Schlüsselbanken und Aufkäufen von Staatsanleihen die Geldmenge so ausweitet, dass Konsumenten und Unternehmer genug Geld für Konsumenten- bzw. Investitionskredite zur Verfügung haben und so aus einer Rezession keine Depression wird. Die Maßnahmen der großen Zentralbanken in den vergangenen Jahren, und insbesondere seit der Finanzkrise 2008/09, beruhen auf diesen Empfehlungen. Zur Zeit der Großen Depression in den 1930er Jahren allerdings, hätte die US-amerikanische Zentralbank diese Methoden, selbst wenn sie es gewollt hätte, aufgrund einer strengen gesetzlichen Vorgabe bezüglich des Goldstandards nicht so anwenden können.
Anfangs wurden beide Theorien kontrovers diskutiert; heute hat sich als Mainstream eine Mischform herauskristallisiert: In normalen Zeiten sollen Nachfrage und Geldmenge auf einem stabilen Pfad gehalten werden. Zeichnet sich aber, wie z. B. in der Finanzkrise 2008/09, die Gefahr einer Depression ab, sollen Regierungen ihre Steuer- und Ausgabenpolitik so anpassen, dass es zu keinem Nachfrageschock kommt, und die Zentralbanken sollen ihre Geldmarktpolitik - wenn nötig mit den oben genannten Mitteln - so gestalten, dass die Volkswirtschaft und insbesondere die Banken mit ausreichend Liquidität und Kapital ausgestattet sind.
Wie schon angesprochen, werde ich im nächsten Blogbeitrag Irving Fishers Theorie der "Schuldendeflation" erläutern und darauf eingehen, warum eine Deflation für unsere moderne schuldenbasierte Konsumgesellschaft eine Gefahr darstellt.
(1) Z.B. in dem Roman "Die Früchte des Zorns" des Nobelpreisträgers John Steinbeck
(2) Den zweiten Teil der Empfehlung von John Maynard Keynes, dass nämlich während wirtschaftlicher Aufschwünge Schulden abzubauen sind, haben die Regierungen allerdings ignoriert. Dadurch sind die Schuldenberge der meisten Volkswirtschaften immer nur gewachsen. Für viele Staaten wird es daher immer schwieriger, neue Schulden aufzunehmen, um bei einem erneuten Wirtschaftsabschwung konjunkturfördernd einzugreifen.