Sollte man heutzutage noch Aktien kaufen?
Für Aktienanleger waren die zurückliegenden Wochen schmerzhaft: Der Euro Stoxx 50 hat seit dem 1. Juli 30% eingebüßt. Während die Börsenindizes Anfang 2011 augenscheinlich in den Startlöchern standen, um auf das Niveau von vor der 2008/2009er Krise zurückzukehren, laufen heute einige bereits Gefahr, ihr während der Krise erreichtes Tief weiter zu unterbieten.
Zum jüngsten Kurseinbruch kommt die Tatsache hinzu, dass auch das längerfristige Marktverhalten Anlegerherzen kaum mehr höher schlagen lässt: Der DAX stand um die Jahrtausendwende bei ca. 7.000 Punkten – heute, knapp zwölf Jahre später, bewegt er sich um die Marke von 5.100 Punkten. Der französische Index CAC 40 befindet sich praktisch 50% unter seinem Stand von Ende 1999, und der S&P500 in den USA, welcher sich diesen Sommer deutlich besser behaupten konnte als die europäischen Indizes, hat ebenfalls noch 20% gutzumachen. Mittlerweile wird selbst jenen Anlegern die Zeit lang, die eigentlich durchaus einsehen, dass Aktienanlagen einen langfristigen Horizont erfordern. John Maynard Keynes Diktum, dass wir auf lange Sicht alle tot sind, sorgt allmählich für Beklemmungen. Sollte man vor diesem Hintergrund noch in Aktien investieren?
Es lohnt sich, vor der Beantwortung dieser Frage noch einmal darüber nachzudenken, was eine Aktie eigentlich darstellt. Jedes Unternehmen kann sich auf zweierlei Weise Kapital beschaffen: Es kann Schulden aufnehmen oder Aktien ausgeben. Letztere stellen Eigenkapital dar, während es sich bei einer Schuldverschreibung um Fremdkapital handelt. Zwischen Aktien und Schuldverschreibungen gibt es einen wesentlichen Unterschied: Aktien kommen de facto einer Beteiligung am Unternehmen gleich. Jeder Aktionär ist Miteigentümer des Unternehmens, und der Ertrag seiner Anlage hängt vom künftigen Unternehmensergebnis ab. Der Inhaber einer von diesem Unternehmen emittierten Schuldverschreibung (in der Regel eine Anleihe) ist hingegen ein normaler Gläubiger, für den der künftige Erfolg des Unternehmens uninteressant ist, solange die jährliche Zinszahlungsfähigkeit sowie die Tilgungsfähigkeit bei Endfälligkeit gewährleistet sind.
Jeder Anleger, der Aktien eines Unternehmens kauft, sollte sich deshalb dieselben Fragen stellen wie derjenige, der das gesamte Unternehmen aufkaufen möchte. Im Mittelpunkt stehen dabei zwangsläufig zwei Punkte: Qualität und Bewertung.
- In puncto Qualität geht es darum, ob das Unternehmen über Merkmale verfügt, durch die es sich von denWettbewerbern differenzieren kann bzw. die höhere Margen sowie eine bessere Rentabilität ermöglichen.
- In puncto Bewertung bleibt zu analysieren, ob ein Einstieg zu einem angemessenen Preis möglich ist, d.h. zu einem ausreichend niedrigen Kurs (im Verhältnis zum Eigenkapital, den Aktiva, dem derzeitigen und künftigen Gewinn usw.), der eine unter Berücksichtigung der eingegangenen Risiken ausreichende Rendite erlaubt.
Bei börsennotierten Gesellschaften kommt außerdem eine psychologische Komponente hinzu: Häufig steigt oder sinkt der Börsenkurs, ohne dass ein konkreter Zusammenhang mit der Unternehmenssituation erkennbar ist. (Jeden Tag wechseln beispielsweise rund 10 Millionen Aktien von Coca-Cola den Besitzer – meist ohne dass irgendeine wesentliche Unternehmensinformation vorliegt. Erstaunlich, oder? Warum ein Anleger Coca-Cola-Aktien am Dienstag noch nicht kauft/verkauft und dann am Mittwoch urplötzlich zur Tat schreitet, bleibt mir bis heute ein Rätsel.) Ein Anleger, der eine Beteiligung an einem Privatunternehmen erwirbt, kennt dieses Problem hingegen nicht. Er muss sich lediglich um den operativen Erfolg des Unternehmens sorgen. Denn er setzt sich nicht einem Markt aus, der seine Anlageentscheidung jeden Tag aufs Neue mit Kurssteigerungen oder -rückgängen als richtig oder falsch bestätigt.
Die täglichen Kursschwankungen können Anlegern Angst machen, aber auch Chancen eröffnen. Benjamin Graham illustrierte dies mit seinem fiktiven Mr. Market, und Warren Buffett erzählte seinen Aktionären die Geschichte dieses kleinen Mannes immer wieder. Sie geht so: Stellen Sie sich vor, dass Sie und Mr. Market gemeinsam Eigentümer eines Unternehmens sind. Jeden Tag kommt Mr. Market in Ihr Büro und teilt Ihnen mit, wie viel er heute für Ihren Anteil am Unternehmen zahlen bzw. zu welchem Preis er seinen Anteil verkaufen würde. Während Ihr Unternehmen relativ stabile Ergebnisse erzielt, schwankt das Angebot von Mr. Market täglich. Denn Mr. Market überkommen immer wieder andere Emotionen. Heute sieht er ausschließlich die positiven Seiten der Dinge und ist ganz Optimist. Dann bietet er einen sehr hohen Preis. Morgen steht ein mutloser Pessimist vor Ihnen, in dessen Augen die Zukunft nur aus Problemen besteht. Entsprechend niedriger fällt sein Preis aus. Doch Mr. Markets Persönlichkeit hat einen weiteren sehr interessanten Zug: Er ist sehr beharrlich und ärgert sich nicht, wenn Sie sein Angebot ablehnen – am nächsten Tag kommt er wieder. Die Transaktion kommt nur zustande, wenn Sie dazu bereit sind. Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, dass Sie Ihre Entscheidung unabhängig von der jeweiligen Stimmungslage des Mr. Market treffen und sich nicht anstecken lassen. Für Sie ist nur sein Preis interessant,nicht seine Markteinschätzung.
Vielleicht wirkt diese Geschichte in unserer aktuellen Welt veraltet. Anlagen werden heute häufig als komplizierte, geheimnisvolle Akte dargestellt, die auf (unsinnigen) Theorien basieren wie jener der effizienten Märkte. Eine Welt, in der Computerprogrammen mehr zugetraut wird als einer mit gesundem Menschenverstand getroffenen Entscheidung. Doch in Wirklichkeit hat sich nichts verändert:Qualitätsunternehmen zu einem angemessenen Einstiegspreis sind wie eh und je der beste Garant für eine langfristig erfolgreiche Anlage.
Grahams Geschichte zeigt aber noch eine andere eine wichtige Tatsache auf: Sie können nur dann von Mr. Markets Stimmungsschwankungen profitieren, wenn Sie Ihr Unternehmen besser bewerten können als er. Es erstaunt immer wieder, wie viele Anleger Aktien kaufen, ohne irgendeine Vorstellung vom Wert dieses Unternehmens zu haben. Um einen besonders niedrigen oder hohen Kurs zu nutzen, bedarf es jedoch eines Referenzwerts, anhand dessen das günstige oder teure Kursniveau identifiziert wird. Bei BLI - Banque de Luxembourg Investments bezeichnen wir diesen Referenzwert als inneren Wert eines Unternehmens. Anleger, die ohne Referenzgröße investieren, sind den Marktschwankungen haltlos ausgeliefert und laufen Gefahr, irgendwann selbst zum Mr. Market zu werden.
Qualitätsunternehmen auf einem angemessenen Kursniveau zu kaufen, mag auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen. Doch in der Praxis ist die Sache komplizierter. Ein Musterbeispiel hierfür ist die Internetblase Ende der 1990er-Jahre: Neu gegründete Unternehmen, die noch keine Gewinne (und in einigen Fällen noch nicht einmal Umsatz) erzielten, wiesen plötzlich enorme Marktkapitalisierungen auf, während andere Firmen mit soliden Ergebnissen völlig ins Abseits gerieten. Fondsmanager stellt dies vor ein großes Problem: Entweder, sie geben dem Druck der Märkte und häufig auch der Kunden nach und tun, was alle tun – oder sie folgen ihrer durchaus vernünftigen Strategie und riskieren, dass die Kunden scharenweise davonlaufen, weil ihr Fonds sich temporär schlechter als der Markt entwickelt. Wir bei BLI halten es mit Warren Buffett: „Wir müssen nicht schlauer sein als der Rest. Wir müssen nur disziplinierter sein." Ansonsten hat man die Kunden, die man verdient.
Doch zurück zu unserer Ausgangsfrage: Sollte man heute noch Aktien kaufen? Zunächst ist diese Fragestellung zu unscharf, denn niemand käme es in den Sinn zu fragen, ob man heute noch Eigentümer eines Unternehmens sein sollte. Und der Kauf einer Aktie bedeutet wie gesagt, dass man Miteigentümer dieses Unternehmens wird. (Dies gilt nur für die Länder, in denen die Rechte der Aktionäre und besonders der Minderheitsaktionäre geschützt sind.) Trotz Rezessionsgefahr und Staatsschuldenkrise in Europa verkauft derzeit kaum ein Unternehmer seine Firma – während sich Anleger in wesentlich größerem Umfang von ihren Aktien trennen (andererseits: ohne Käufer keine Verkäufer). Hinzu kommt, dass das Kaufen „von Aktien" oder „des Marktes" normalerweise nicht viel heißt, sofern man nicht gerade von Indizes besessen ist. Unsere Frage sollte deshalb anders lauten: „Lassen sich auf dem aktuellen Kursniveau Qualitätsunternehmen mit einer Bewertung finden, die so niedrig ist, dass auf mittlere bis lange Sicht eine realistische Perspektive auf eine attraktive Rendite besteht?" Entscheidend ist die „mittlere bis lange Sicht". Denn die Strategie, Qualitätsunternehmen mit angemessener Bewertung zu kaufen, ist keine Zauberformel für das schnelle Geld. Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass kurzfristig (Zeithorizont unter einem Jahr) keinerlei Korrelation zwischen Bewertung und Ertrag besteht. Auf kurze Sicht kann ein günstiges Qualitätsunternehmen noch billiger werden, d.h. der Kurs weiter sinken.
Unsere umformulierte Frage beantworten wir mit „ja".