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Die Inflation ist derzeit das vorherrschende Thema an den Finanzmärkten. In den USA stieg die Inflationsrate im Mai auf 5 % und somit auf den höchsten Wert seit 2008. Ohne Energie und Nahrungsmittel erreichte der Index mit 3,8 % sogar sein höchstes Niveau seit 1992. Der von der US-Notenbank bevorzugte Preisindikator – der Deflator der privaten Konsumausgaben – stieg sogar auf 3,6 %. Derzeit besteht also kein Zweifel daran, dass die Inflation steigt. Alle Indikatoren deuten darauf hin.

Die Frage ist eher, ob es sich um einen vorübergehenden oder einen dauerhaften Anstieg handelt. In diesem Punkt gehen die Meinungen der Experten auseinander. Die US-Zentralbank zählt ganz klar zum Lager derjenigen, die davon ausgehen, dass die momentane Inflation nur vorübergehend ist und wieder sinken wird. Leider erläutert sie nicht, was sie unter „vorübergehend“ versteht: ein paar Monate? Mehrere Jahre? Sie schweigt auch zu der Frage, wie hoch ihrer Meinung nach das anschließende langfristige Inflationsniveau sein wird. Entspricht es ungefähr dem Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre, also 1,8 %? Höher? Niedriger?

Kerninflation in den USA

Quelle: Bloomberg


Die Fachleute debattieren zwar angestrengt, ob die Inflation nun von Dauer sein wird oder nicht, aber tatsächlich ist eine klare Aussage zu diesem Punkt derzeit völlig unmöglich. Gegen Ende der 1990er-Jahre, am Höhepunkt der "Dot.com"-Blase, sagte der berühmte Investor Warren Buffett zum Thema Internet-Unternehmen Folgendes: „Müsste ich unterrichten, würde ich in der Abschlussprüfung eine Internetfirma als Beispiel nehmen und fragen: ‚Wie viel ist diese Firma wert?‘. Jeden, der sich traut, diese Frage zu beantworten, würde ich durchfallen lassen.“ Das Gleiche könnte man heute über die Frage sagen, ob die steigende Inflation vorübergehend ist oder nicht. Jeder Person, die behauptet, die Frage sicher beantworten zu können, mangelt es an Bescheidenheit. Wem dies klar ist, der kann aber dennoch die wesentlichen Argumente beider Seiten sammeln und sich seine eigene Meinung bilden – auf die Gefahr hin, sie immer wieder hinterfragen zu müssen.

Zuvor möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass sich die Debatte um die Inflation auf die sogenannte Realwirtschaft auswirkt, also auf Waren und Dienstleistungen, die von gewöhnlichen Sterblichen konsumiert werden. Über die Inflation im Finanzsektor brauchen wir gar nicht erst diskutieren. Die Kurse von Finanz- und Immobilientiteln sind in den vergangenen zehn Jahren stark gestiegen, und die Bewertungen dieser Vermögenswerte liegen weit über ihrem historischen Durchschnitt. Wer also behauptet, dass die Inflation trotz der expansiven Geldpolitik der Zentralbanken seit der Finanzkrise niedrig geblieben sei, liegt falsch. Mit ihren Maßnahmen haben die Notenbanken sehr wohl eine Inflation verursacht – nur eben nicht da, wo sie sie gerne hätten. 

Schließlich muss ebenfalls erwähnt werden, dass eine anhaltend höhere Inflation eine dauerhafte Steigerung des allgemeinen Preisniveaus bedeutet. Eine dauerhafte Steigerung unterscheidet sich von einer punktuellen. Wenn das allgemeine Preisniveau zwischen Mai 2020 und 2021 von 100 auf 105 steigt, beträgt die Inflationsrate 5 %. Stabilisiert sich das Preisniveau anschließend bei 105, dann sinkt die Inflationsrate nach und nach und liegt im Mai 2022 bei null. Die Inflation würde dann also punktuell und nicht dauerhaft steigen. 

Wie lauten also die Argumente der beiden Lager? Ich habe versucht, mich im Folgenden auf die Punkte zu beschränken, die aus meiner Sicht am ehesten auf Tatsachen beruhen. Diejenigen, die ich für eher subjektiv halte, habe ich außer Acht gelassen. Interessant ist zum Beispiel, dass beide Lager mit der Bevölkerungsentwicklung argumentieren. Die einen sehen sie als treibenden Faktor für die Desinflation (sie beziehen sich auf Statistiken die besagen, dass ältere Menschen in der Vergangenheit stets weniger Geld ausgegeben hätten), die anderen als Ursache für die Inflation (die Alterung der Gesellschaft verringere die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter und steigere die Gesundheitskosten).
 

Argumente gegen einen nachhaltigen Anstieg der Inflation

Zuerst möchte ich mich gerne den Argumenten widmen, die in der steigenden Inflation nur ein vorübergehendes Phänomen sehen. Ihr Hauptargument: Die Inflation kann nur dann dauerhaft steigen, wenn auch die Löhne und Gehälter steigen. Bleiben die Löhne und Gehälter gleich, dann wird eine Preissteigerung bei bestimmten Waren und Dienstleistungen durch eine Preissenkung bei anderen Waren und Dienstleistungen ausgeglichen und das allgemeine Preisniveau bleibt gleich. Als Beispiel könnte man einen starken Anstieg des Ölpreises anführen. Die Haushalte müssten dann mehr fürs Tanken oder fürs Heizen ausgeben. Sie hätten also weniger Geld für andere Waren und Dienstleistungen zur Verfügung, daher würden die Preise letzterer sinken. So entstand die Inflation der 1970er-Jahre dadurch, dass der Preisdruck, der sich als Folge der Ölpreisschocks ergab, in einem Umfeld, in dem die Löhne und Gehälter indexgebunden waren und die Gewerkschaften eine große Verhandlungsmacht hatten, einen Schneeballeffekt auslöste. Das ist heute anders. Die technische Entwicklung und die zunehmende Digitalisierung, Automatisierung und Robotisierung werden weiterhin Druck auf die Preise und die Löhne und Gehälter ausüben. In den USA haben die Unternehmen so trotz der Rezession ihre Ausgaben für Investitionen und Technologie im vergangenen Jahr um 7 % gesteigert, während die Beschäftigtenzahlen um 4,5 % zurückgingen. Die daraus entstehenden Produktivitätssteigerungen sollten jeden Anstieg der Lohnstückkosten begrenzen.

Gewerkschaftlicher Organisationsgrad im Vereinigten Königreich und in den USA

Quelle: Bernstein


Zweites Argument: Das derzeitige Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage dürfte sich nach und nach wieder ausgleichen. Auf der Nachfrageseite sei die Theorie einer immensen aufgestauten Nachfrage sowieso zweifelhaft. Zwar ist die Nachfrage nach vielen Dienstleistungen (Restaurants, Reisen ...) mit der Schließung der Wirtschaft eingebrochen, aber die Ausgaben für langlebige Konsumgüter sind stark gestiegen. Das ist in einer Rezession noch nie vorgekommen und liegt daran, dass die verfügbaren Haushaltseinkommen im Gegensatz zu bisherigen Rezessionen 2020 wegen der Unterstützungsmaßnahmen der Regierungen nicht zurückgingen. Der Beitrag der langlebigen Konsumgüter am Bruttoinlandsprodukt liegt deutlich über demjenigen der von der Schließung der Wirtschaft betroffenen Dienstleistungen. Mit anderen Worten: Eine aufgestaute Nachfrage gibt es bei einem Großteil der Konsumausgaben nicht, und man könnte sogar sagen, dass der starke Anstieg der Ausgaben für langlebige Konsumgüter in der Pandemie ein schlechtes Vorzeichen für den künftigen Ausblick in diesem Segment ist (wer sich 2020 einen Fernseher gekauft hat, wird in diesem oder im kommenden Jahr nicht noch ein Gerät kaufen). Auf der Angebotsseite findet nach dem ersten Schock gerade eine Normalisierung der Lieferketten statt.

USA: Anstieg/Rückgang der Ausgaben für langlebige Konsumgüter

Quelle: Bloomberg


Drittes Argument: Die hohe Überschuldung der Weltwirtschaft. Diese Überschuldung sorgt dafür, dass der Kreditmultiplikator, das Verhältnis zwischen Schulden und Einlagen oder die Umschlaggeschwindigkeit des Geldes in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen sind. Somit besteht in der Realwirtschaft kein direkter Zusammenhang mehr zwischen Liquiditätsspritzen/Steigerung der Geldmenge und der Inflation. Zudem vergüten die Zentralbanken im Gegensatz zu früher die Überschussreserven. Zinsen auf Überschussreserven reichten nach dieser Argumentation aus, dass jeder geldpolitische Multiplikatormechanismus trotz der hohen Liquidität im Bankensystem heutzutage weniger relevant ist. 

Geldumlaufgeschwindigkeit in den USA

Quelle: Bloomberg

Argumente für einen nachhaltigen Anstieg der Inflation


Kommen wir nun zu den Argumenten derjenigen, die davon ausgehen, dass wir nach 40 Jahren rückläufiger bzw. geringer Inflation nun in ein neues Zeitalter eintreten, in dem die Inflation dauerhaft höher bleibt. Ihr Hauptargument lautet, dass sich die beiden desinflationären Tendenzen der vergangenen Jahrzehnte derzeit ins Gegenteil verkehren. Eine dieser Tendenzen ist die Globalisierung. Im Westen machte die Pandemie die Anfälligkeit eines Produktionssystems sichtbar, das auf der Auslagerung der Produktionsketten beruht. Im Osten verändert sich gerade das Wirtschaftsmodell von einem auf Warenproduktion basierenden zu einem auf Konsum basierenden Wachstum. Generell scheinen Nationalismus und Protektionismus zuzunehmen. Die zweite Tendenz ist der demografische Wandel, vor allem in den Schwellenländern. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Zahl an arbeitsfähigen Menschen in der Weltwirtschaft allein durch die asiatischen Ländern um über zwei Milliarden Menschen gestiegen. In einer globalisierten Welt hat diese Zunahme an arbeitsfähigen Personen die Steigerung der Löhne und Gehälter in den Industrieländern begrenzt. Heute steht Asien ebenfalls vor dem Problem einer alternden Bevölkerung.

Anzahl der Bevölkerung zwischen 20 und 65 Jahren in den Industriestaaten 

Quelle: Bernstein


Außer diesen greifbaren Aspekten kommen noch andere hinzu, die eventuell nicht sofort sichtbar sind. Sie basieren auf einer Entwicklung, die manche als grundlegenden Wandel des wirtschaftlichen Umfelds bezeichnen würden. Dazu gehören zum Beispiel:

  • ein allmählicher Verzicht auf strenge Haushaltsdisziplin, 
  • die Entstehung von Konzepten wie der MMT (Modern Monetary Theory), die den Einsatz von Schulden zur Finanzierung von immer ambitionierteren Sozialprogrammen rechtfertigen,
  • in diesem Zusammenhang ein allmählicher Abbau der Unabhängigkeit der Zentralbanken. Von ihnen wird im Endeffekt erwartet, dass die Finanzierung von Haushaltsdefiziten kein Problem darstellt,
  • der Übergang zu einer „grüneren“ Wirtschaft und den damit verbundenen Kosten,
  • Zentralbanken, die der Meinung sind, dass eine Deflation die größte Gefahr für die Weltwirtschaft darstelle,
  • Zentralbanken, die nach dem Vorbild der Reserve Bank of Australia den Anstieg der Löhne und Gehälter plötzlich als eines ihrer vorrangigen Ziele betrachten, 
  • stärkere Eingriffe des Staates in die Wirtschaft,
  • öffentliche Ausgaben, die zum Großteil den Konsum statt Investitionen fördern, und die deshalb das Wachstumspotenzial nicht steigern,
  • ein politisches Pendel, das wieder in Richtung einer Sozialpolitik tendiert, das die Rechte der Arbeitnehmer verteidigt, mit dem politischen Willen, die Löhne auf Kosten des Kapitals zu steigern,
  • Regierungen, denen bewusst wird, dass eine Senkung der realen Schuldenkosten mithilfe der Inflation die einzige Möglichkeit darstellt, das Überschuldungsproblem zu lösen.

 

Bei einem solch grundlegenden Wandel im wirtschaftlichen Umfeld besteht die Gefahr einer anhaltenden Abwertung der Papierwährungen. Schließlich wird Geld durch nichts so sehr abgewertet wie durch den Eindruck, man müsse nichts tun, um es zu verdienen. Statt also zu sagen, dass Aktienmärkte, Immobilien oder Gold in Euro oder US-Dollar hohe Wertsteigerungen verzeichnen, könnte man auch sagen, dass der Euro oder der Dollar gegenüber Immobilien, Aktien oder Gold stark abgewertet haben. Das Resultat ist das gleiche, aber die Betrachtungsweise eine andere. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass die Dinge sehr schnell gehen können, wenn das Vertrauen in eine Währung einmal verloren gegangen ist.

Eurokurs in Gold ausgedrückt

Quelle: Bloomberg

Auswirkungen auf die Finanzmärkte 

Für die Finanzmärkte ist die Frage der Inflation selbstverständlich sehr wichtig. Frühere Zeiten hoher Inflation waren für sie generell wenig vorteilhaft, weil die Zentralbanken in diesen Zeiten dazu tendierten, ihre Geldpolitik zu straffen (dadurch stiegen die kurzfristigen Zinsen) und die Anleger höhere Renditen für die Bereitstellung ihres Kapitals verlangten (was die langfristigen Zinsen steigen ließ). Der daraus resultierende Zinsanstieg belastete dann das Bewertungsniveau der Aktien. Im derzeitigen Umfeld ist jedoch nicht sicher, ob eine nachhaltig höhere Inflation einen Anstieg der Zinsen zur Folge hätte. Die Zentralbanken haben bereits bekanntgegeben, dass sie vor einer deutlichen Straffung der Geldpolitik noch abwarten möchten. In der Praxis kontrollieren sie sowieso nur die kurzfristigen Zinsen direkt, aber sie könnten auch versuchen, jeden Anstieg der langfristigen Zinsen zu begrenzen. In einem Umfeld allgemeiner Überschuldung mit sehr hohen Staatsschulden könnten sich steigende Kosten für den Schuldendienst sehr schnell negativ auf die Wirtschaftstätigkeit und die öffentlichen Ausgaben auswirken. 

Vor einer Analyse der möglichen Folgen einer dauerhaft höheren Inflation für die Finanzmärkte müsste man also zwischen zwei Szenarien unterscheiden. Ein Szenario, in dem die Inflation mit einer deutlich strafferen Geldpolitik einhergeht und die Realzinsen steigen, und ein anderes, in dem dies nicht der Fall ist. Das erste Szenario ist – zumindest kurzfristig – für die Finanzmärkte (und vor allem für Gold) eindeutig ungünstig, im zweiten könnten Sachwerte (Aktien, Gold ...) sich durchaus behaupten. Staatsanleihen wären in beiden Szenarien auf der Verliererseite. Wenn die Zinsen steigen, sinken ihre Kurse. Steigen die Zinsen nicht, lässt die Inflation ihre Kaufkraft erodieren.

Guy Wagner, Chief Investment Officer

Guy Wagner stammt aus einer Unternehmerfamilie in Luxemburg und besitzt einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften der Université Libre Brüssel. Er trat 1986 in die Banque de Luxembourg ein, wo er zunächst die Abteilungen Finanzanalyse und Asset Management leitete, bevor er 2005 zum Geschäftsführer von BLI - Banque de Luxembourg Investments, einer neu gegründeten Verwaltungsgesellschaft, ernannt wurde.

Seit Juli 2022 widmet er sich ausschließlich seiner Rolle als Chief Investment Officer, dem Portfoliomanagement und der Leitung des Teams, das für die Verwaltung der verschiedenen Fonds verantwortlich ist.

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