Eine liquiditätsbedingte Hausse
"The notion that central banks are in control of events is a myth. It's the other way around." (Dylan Grice, Société Générale) " You simply cannot create investment opportunities when they're not there. When prices are high, it's inescapable that prospective returns are low. The motto of those who reach for return seems to be: 'If you can't get the return you need from safe investments, pursue it via risky investments.' It takes a lot of hard work or a lot of luck to turn something bought at a too-high price into a successful investment. Patient opportunism - waiting for bargains - is often your best strategy." (Howard Marks, Oaktree Capital Management)
Seit die Europäische Zentralbank begonnen hat, den Banken der Eurozone über langfristige Refinanzierungsgeschäfte (LRG) Liquidität für drei Jahre zur Verfügung zu stellen, sind die Börsen um ca. 20% gestiegen.
Aus unserer Sicht stellen „reichlich vorhandene Liquidität" oder „sehr niedrige Zinsen" jedoch keine Argumente für einen Aktienkauf dar. Alle Versuche der Vergangenheit, durch billiges Geld den Wert von Finanzanlagen zu steigern, scheiterten langfristig. Denn billiges Geld löst grundlegende Probleme nicht, sondern verschärft sie.
Das einzige wirkliche Kriterium für eine Anlage in Aktien oder andere Finanztitel ist unseres Erachtens einausreichend niedriger Einstiegspreis (und auch dann sollten solche Finanzwerte wenn möglich qualitativ hochwertig sein). Denn nur dieser erlaubt anschließend eine angemessene Rendite. Viele Analysten betonen, dass die Börsenbewertungen von Aktien aktuell sehr attraktiv seien. Bewertungskennzahlen, die in der Vergangenheit künftige Renditen korrekt prognostizierten, sprechen jedoch eine andere Sprache: Die momentane Bewertung der US-Börse indiziert auf dieser Basis auf Sicht der kommenden Jahre eine annualisierte Rendite von etwa 4%. Einige Anleger werden diese Aussicht angesichts der derzeitigen Erträge am Geld- und Rentenmarkt durchaus positiv bewerten. Aus unserer Sicht stellt eine Rendite dieser Größenordnung jedoch keine angemessene Kompensation des Risikos einer Aktienanlage dar. Die Tatsache, dass Aktien mit 4% möglicherweise eine höhere Rendite als festverzinsliche Anlagen bieten, spricht vielmehr Bände über die geringe Attraktivität des Rentenmarkts.
Vor rund zehn Monaten schrieb ich in meinem Artikel „Aktien am Scheideweg", dass die Börsengeschichte im Wesentlichen zwei Arten von Märkten kennt:
- strukturelle Hausse-Märkte
- strukturelle Seitwärtsmärkte.
In strukturellen Hausse-Märkten besteht ein fest etablierter Aufwärtstrend: Zehn bis 20 Jahre nach dem Aktienkauf verzeichnet der Anleger ungeachtet vorübergehender Korrekturen einen ansehnlichen Ertrag. 2000 bewegten sich die Börsenindizes auf einem deutlich höheren Niveau als 1982. In einem strukturellen Seitwärtsmarkt ergibt sich ein anderes Bild: 1982 lagen die Börsenindizes ungefähr auf dem Niveau von 1966, während sie sich 2012 unter dem Stand von 2000 bewegen. Nach dem Kursanstieg zwischen März 2009 und Mai 2011, so schrieb ich im Mai 2011 weiter, standen die Märkte am Scheideweg, und die Anleger mussten sich zwischen zwei Szenarien entscheiden:
- Entweder bildete der März 2009 den Ausgangspunkt eines neuen strukturellen Hausse-Marktes. Die aussichtsreichste Strategie in diesem Szenario wäre dann, weiter investiert zu bleiben und vorübergehenden kleineren Korrekturen nicht allzu viel Beachtung zu schenken.
- Oder die Erholung zwischen März 2009 und Mai 2011 war nur eine zyklische Hausse-Bewegung innerhalb eines Seitwärtsmarktes (wie z.B. zwischen März 2003 und Oktober 2007). In diesem Fall sollte ein progressiver Rückzug aus dem Markt ins Auge gefasst werden.
Die aktuelle Situation ist ganz ähnlich: Die Börsenindizes tendierten nach dem Erscheinen meines Artikels zunächst sechs Monate lang im Wesentlichen nach unten. Und trotz der deutlichen Kursgewinne seit Dezember vermochten die meisten Märkte nicht, ihren Stand vom Mai 2011 zu übertreffen.
Erneut stellt sich nun die Frage, ob es den Börsenindizes gelingen kann, dem Fegefeuer nach zwölf Jahren „vergeblicher Mühe" zu entkommen und zu einer nachhaltigen Erholung anzusetzen. Zunächst einige grundlegende Überlegungen:
Nehmen wir ein Unternehmen, das einen Gewinn je Aktie von 1 Euro ausweist. Wenn der Markt bereit ist, das Zwölffache dieses Gewinns zu bezahlen, wird diese Aktie mit 12 Euro gehandelt. Ein weiterer Kursanstieg setzt zwei Dinge voraus: Das Unternehmen muss seinen Gewinn steigern, oder der Markt muss bereit sein, diesen Gewinn höher zu bezahlen (die Bewertungskennzahl von 12 stiege dann).
Was für ein Unternehmen gilt, lässt sich auch auf den Markt als Ganzes übertragen. Die Unternehmensgewinne und die Bewertungskennzahlen sind die einzigen Faktoren, die einen Anstieg der Börsenindizes bewirken können. In strukturellen Hausse-Märkten legen beide Faktoren zu, deshalb sind die Börsenrenditen in diesen Märkten sehr hoch. Zurück zu unserem Beispiel: Wenn der Gewinn je Aktie zehn Jahre später bei 2 Euro liegt und der Markt bereit ist, das Zwanzigfache des Gewinns zu bezahlen, klettert der Kurs auf 40 Euro. Ein Anleger, der bei 12 Euro eingestiegen ist, hat somit eine annualisierte Rendite von 13% erzielt.
In strukturellen Seitwärtsmärkten hingegen steigen die Gewinne – aber die Bewertungskennzahlen sinken. Da der Rückgang der Bewertungskennzahlen den Gewinnzuwachs kompensiert, stagniert der Kurs (in strukturellen Baisse-Märkten sinken sowohl die Bewertungskennzahlen als auch die Gewinne. Solche Märkte gab es in der Vergangenheit jedoch nur sehr selten.).
Eine Antwort auf die Frage, ob ein struktureller Hausse- oder Seitwärtsmarkt vorliegt, setzt deshalb eine Prognose der künftigen Richtung der Gewinne und der Bewertungskennzahlen voraus (mit besonderer Betonung auf „strukturell", da wir uns nicht mit Trading-, sondern mit Anlagestrategien befassen).
Was die Gewinne angeht, kommt man um folgende Feststellung nicht umhin: In den zurückliegenden zwei Jahren fielen sie – trotz der Schwäche der Konjunkturerholung – erstaunlich gut aus. Allerdings deuten die jüngsten veröffentlichten Unternehmensergebnisse einen Wendepunkt an: Sowohl der Umsatz als auch die (derzeit historisch hohen) Gewinnmargen spüren Abwärtsdruck. Längerfristig stellt sich außerdem die Frage nach der Unternehmenssteuer, deren Satz in den vergangenen Jahrzehnten stetig gesunken ist.
Bei den Bewertungen gehen die Meinungen, ob Aktien über- oder unterbewertet sind, derzeit auseinander. Die positiven Faktoren, die den Anstieg der Bewertungskennzahlen zwischen 1982 und 2000 ausgelöst hatten, gibt es jedoch aktuell nicht mehr bzw. sie haben sich sogar ins Negative umgekehrt. Zu diesen positiven Faktoren zählten:
- Rückläufige Teuerungsraten und sinkende Zinsen: Heute sind die Zinsen sehr niedrig. Doch weit gefehlt, wer dahinter eine besonders gute Wirtschaftslage vermutet. Ausschlaggebend ist viel mehr das durch Überschuldung, geringes und teilweise künstliches Wachstum sowie Deflationstendenzen geprägte Umfeld. Und aus Japan wissen wir wiederum, dass die Bewertungskennzahlen in einem solchen Umfeld zurückgehen.
- Verbesserung der geopolitischen Situation (Ende des Kalten Krieges). Heute bauen sich auf der geopolitischen Ebene gerade neue Spannungen auf.
- Relativ regelmäßiger Konjunkturzyklus ohne größere Erschütterungen. Einige Volkswirte standen bereits kurz davor, das Ende der Konjunkturzyklen zu verkünden. Die westliche Welt würde, so ihre Überzeugung, nie mehr in eine tiefe Rezession abrutschen. Heute wissen wir jedoch, dass diese positive Konjunkturentwicklung teils auf die steigende Verschuldung zurückzuführen war – als eine logische Folge der auf künstlich niedrige Zinsen ausgerichteten Geldpolitik. Der Entschuldungsprozess im privaten Sektor sowie das Ende der Schuldenanhäufung im öffentlichen Sektor werden das Wirtschaftswachstum in den kommenden Jahren belasten. Dies wiederum könnte zu kürzeren Konjunkturzyklen und häufigeren Rezessionen führen.
- Die Boomphase kam vor allem den Unternehmen bzw. deren Aktionären zugute, nicht den Mitarbeitern. Als Folge hieraus ist heute der Anteil des Faktors Arbeit am Nationaleinkommen in vielen Ländern auf ein abnormal niedriges Niveau gesunken. Oder anders gesagt: Die Gewinnmargen der Unternehmen sind außergewöhnlich hoch. Diese Situation kann auf Dauer nicht anhalten.
- In den 1980er- und 1990er-Jahren entstand demografisch bedingt eine besonders aktienaffine Anlegerkategorie (die so genannten Babyboomer), die sich heute dem Ruhestand nähert. Diese Menschen möchten nun über ihr Erspartes verfügen bzw. fordern regelmäßige Einnahmen im Gegensatz zu eventuellen langfristigen Kapitalerträgen.
Aus dem Voranstehenden wird deutlich, dass die Voraussetzungen für einen neuen strukturellen Hausse-Markt nicht vorliegen. Deshalb sollte die Börsenerholung der vergangenen Monate zum Ausstieg genutzt werden. Der Eindruck, noch schnell auf den Zug aufspringen zu müssen, trügt.
Dies erklärt auch, warum uns die Idee so fremd ist, Aktien zu kaufen, nur weil die Zentralbanken den Markt mit Geld fluten. Diese Liquidität hat keinerlei Einfluss auf den Gewinn der Unternehmen, d.h. der Faktor „Unternehmensgewinne" wird deshalb nicht steigen. Möglicherweise wirkt sich das Zentralbankgeld vorübergehend auf den zweiten Faktor, die „Bewertung" aus: Es könnte einen Kursanstieg unabhängig von einem Gewinnzuwachs auslösen. Aus Erfahrung wissen wir jedoch, dass eine solche Hausse nicht von Dauer ist, solange eine Verbesserung der makroökonomischen Rahmenbedingungen ausbleibt. Wer erfolgreich an einer liquiditätsinduzierten Hausse teilnehmen möchte, muss deshalb vor den anderen Marktakteuren wissen, wann sie zu Ende geht. Und diese Prognose gelingt erfahrungsgemäß nur ganz wenigen Anlegern.