Ist das Glas halb leer oder halb voll?
Sollte man die aktuelle Börsenlage eher optimistisch oder pessimistisch beurteilen – anders gefragt: Ist das Glas halb leer oder halb voll?
Ein halb leeres Glas
Der Kursanstieg der vergangenen beiden Jahre erfolgte, ohne dass die Unternehmen Gewinnsteigerungen erzielten – in Europa sanken die Gewinne sogar. Die Bewertungskennzahlen sind daher deutlich nach oben geklettert und wirken u.a. oft nur deshalb noch nicht übertrieben, weil die Unternehmen sehr hoheGewinnmargen erzielen, die die Gewinne aufblähen und das Kurs/Gewinn-Verhältnis (KGV) - als wichtigste Bewertungskennzahl - nach unten drücken. Aus der Wirtschaftsgeschichte wissen wir, dass diese Situation nicht von Dauer sein kann: Auf der Basis normalisierter Gewinne handeln einige Märkte weit über ihrem historischen Durchschnitt – dies gilt besonders für die US-Börse.
Entwicklung der Aktienkurse und der Gewinne
Quelle: MSCI, IBES/Datastream
Erste Spekulationsexzesse zeichnen sich ab: In den USA nähert sich das Volumen kreditfinanzierter Aktienkäufe einem Allzeithoch. Der Biotechnologie-Index hat sich seit Anfang 2013 mehr als verdoppelt, und in etwas über einem Jahr kletterte die Börsenkapitalisierung von Facebook von 70 auf 200 Mrd. USD. Ein Börsengang folgt auf den nächsten, und Überzeichnungen sind die Regel.
Die Wirtschaftslage bleibt weiterhin beunruhigend. Die Geldpolitik der Zentralbanken half der Finanzwelt, indem sie die Preise für Finanzaktiva und Immobilien in die Höhe trieb (und nebenbei gleich noch die sozialen Ungleichheiten verschärfte), bewirkte jedoch nichts in der realen Welt. Im Gegenteil: Durch sie fanden notwendige Anpassungen nicht statt. Sie verstärkte die Abhängigkeit der Wirtschaft von niedrigen Zinsen, schuf neue Ungleichgewichte und verhindert so, dass das Wachstum wieder eine gesunde Basis erhält. Dieser Prozess stellt das eigentliche Prinzip der Marktwirtschaft mehr und mehr in Frage.
Die geopolitischen Risiken nehmen zu.
Ein halb volles Glas
Die Zinsen werden noch sehr lange auf einem sehr niedrigen Niveau bleiben: Die Zentralbanken, die die kurzfristigen Zinsen direkt steuern, haben die Beibehaltung eines historisch niedrigen Niveaus bereits angekündigt. Die langfristigen Zinssätze bestimmt zwar theoretisch der Markt, doch in der Praxis üben die Maßnahmen der Geldpolitik einen immer größeren Einfluss aus. Aufgrund der hohen Verschuldung der meisten Industrieländer besteht mittlerweile eine Abhängigkeit der Konjunktur von niedrigen Zinsen, sodass ein Zinsanstieg nur vorübergehenden Charakter hätte.
Niedrigzinsen rechtfertigen höhere Bewertungskennzahlen, wenn alle anderen Faktoren gleich bleiben. In den zurückliegenden beiden Jahren sind die Bewertungen deutlich gestiegen, ohne jedoch ein absurdes Niveau zu erreichen. Trotz Spekulationsexzessen in verschiedenen Bereichen sind viele Anleger noch von den beiden großen Baissephasen der 2000er-Jahre geprägt, und sie verhalten sich mit Blick auf Aktien zurückhaltend.
Die hohen Gewinnmargen erklären sich durch die niedrigen Zinsen und Unternehmenssteuern sowie die mäßigen Lohnkosten, deren Niveau teils der Technologie zu verdanken ist. Bei keinem dieser Einflussfaktoren scheint demnächst eine Wende anzustehen. Infolge der weiterhin moderaten Investitionsausgaben können Unternehmen aus dem Cashflow Aktienrückkäufe finanzieren (die Folge ist eine Erhöhung des Gewinns JE AKTIE) und höhere Dividenden ausschütten.
Eine Korrektur ist zwar jederzeit möglich, aber die Geldpolitik wird alles tun, um einen Börseneinbruch zu verhindern.
Wie lassen sich beide Sichtweisen unter einen Hut bringen?
1. Kauf von einzelnen Aktien, nicht von Märkten
Die Tatsache, dass die Indexe nach oben geschossen sind, ohne dass die Unternehmensgewinne insgesamt gesteigert wurden, schließt attraktive Chancen auf der Einzelwertebene keineswegs aus. Qualitätsunternehmen mit Wettbewerbsvorteilen, die ein schwieriges Konjunkturumfeld weniger belastet, dürften hier der Schlüssel sein.
2. Realistische Renditeerwartungen für Börsenanlagen
Der gezahlte Preis bestimmt die Rendite. Niedrigzinsen können höhere Bewertungskennzahlen rechtfertigen. Wer diese bezahlt, sollte allerdings wissen, dass die zu erwartende Rendite der Anlage in der Folge unter dem historischen Durchschnitt liegt.
3. Der Dividende eine größere Bedeutung beimessen
Die Dividende wird in den kommenden Jahren voraussichtlich einen wesentlichen Teil der Gesamtrendite einer Aktienanlage ausmachen.
4. Angemessener Anlagehorizont für Börsenanlagen und Einkalkulierung der inhärenten Volatilität der Anlage
Beispiel
Eine unserer europäischen Aktienpositionen ist das Schweizer Pharmaunternehmen Roche Holding. Es wird ungefähr mit dem 17-Fachen der 2015 erwarteten Gewinne gehandelt und bietet eine Dividende von rund 8 CHF. Beim aktuellen Kurs (274 CHF) ergibt sich hieraus eine Dividendenrendite von 2,9% (brutto, d.h. vor Steuern).
Auf Basis dieser Zahlen ist eine Anlage in Roche beim aktuellen Kurs aus meiner Sicht nicht irrational (das aktuelle Marktverhalten wird häufig als „irrational" beschrieben, deshalb meine Wortwahl). Mit einem KGV von 17 ist Roche keineswegs besonders günstig, und wir würden es natürlich lieber auf einem niedrigeren Niveau kaufen. Wenn wir jedoch eine Korrektur abwarten wollten, in der das Roche-KGV auf 15, 12 oder gar 10 sinkt, kämen unter Umständen niemals Roche-Aktien in unser Portfolio. Damit würden wir den berühmten Satz von Peter Lynch bestätigen: „Far more money has been lost by investors waiting for corrections, than has been lost in corrections themselves."
Gleichzeitig schneidet Roches Dividendenrendite mit 2,9% gegenüber hochwertigen festverzinslichen Anlagen (Festgeldkonto, Anleihe) sehr gut ab. Wenn Roche seine Dividende weiter erhöht und die Zinsen niedrig bleiben, fällt dieser Vergleich sogar noch stärker zugunsten von Roche aus.
Für Aktien wie Roche würden wir das Glas als halb voll bezeichnen.